Grenzen überschreitende Arbeit

Welche Justiz wäre zuständig? Der Europäische Gerichtshof stellte am 15.3.2011ergänzende Regeln auf.

Der Fall:

Ein LKW-Fahrer aus Osnabrück ist seit 1998 bei einer luxemburgischen Gesellschaft beschäftigt. Diese ist auf den Transport von Blumen und anderen Pflanzen von Odense in Dänemark vor allem nach Deutschland, aber auch in andere EU-Länder spezialisiert. Die Abstellplätze für die LKW befinden sich in Deutschland, wo die Arbeitgeberin weder über einen Gesellschaftssitz noch über Geschäftsräume verfügt. Ihre LKW sind in Luxemburg zugelassen und die Fahrer sind der luxemburgischen Sozialversicherung angeschlossen. Der schriftliche Arbeitsvertrag sieht für den Fall eines Rechtsstreits die Anwendung des luxemburgischen Rechts vor.

Die Beschäftigten gründeten  im Januar 2001 in Deutschland einen Betriebsrat  nach dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz. Diesem gehörte der LKW-Fahrer als Ersatzmitglied an. Im März 2001 wurde ihm ordentlich gekündigt. Er ist der Auffassung, dass auf sein Arbeitsverhältnis deutsches Recht Anwendung findet. Dieses sehe im Gegensatz zum luxemburgischen Recht einen Sonderkündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder vor.

Zuerst erklärte sich das Arbeitsgericht Osnabrück wegen der Rechtswahl im Arbeitsvertrag für unzuständig. Das niedersächsische Landesarbeitsgericht bestätigte das auf die Beschwerde des LKW-Fahrers. Deswegen klagte er weiter vor der luxemburgischen Arbeitsgerichtsbarkeit. Der Berufungsgerichtshof dort formulierte wieder Zweifel an seiner nationalen Zuständigkeit und legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vor, nach welchen Kriterien in einem solchen Fall das anwendbare Recht zu bestimmen sei.

Der Europäische Gerichtshof entschied, dass das Recht des Staates maßgeblich ist, in dem der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen im Wesentlichen erfüllt. Auf den Arbeitsvertrag selbst kommt es nur in zweiter Linie an. Der Arbeitnehmer ist beim Abschluss des Arbeitsvertrages der strukturell Schwächere. Übt ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren EU-Mitgliedstaaten aus und kommt es zum Rechtsstreit, so findet das Recht des Staates Anwendung, in dem der Arbeitnehmer seine beruflichen Verpflichtungen im Wesentlichen erfüllt. Das war Deutschland. Die freie nationale Rechtswahl in Arbeitsverträgen ist insoweit zum Schutz des Arbeitnehmers als schwächere Vertragspartei eingeschränkt.

Die Gründe:

Grundsätzlich unterliegen Arbeitsverträge zwar dem von den Parteien gewählten nationalen Recht. Diese subjektive Rechtswahl darf aber nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des nationalen Rechts gewährt wird, wie es anzuwenden wäre, wenn die Parteien keine Rechtswahl getroffen hätten. Nach dem EU-Übereinkommen von Rom über das auf alle Verträge anwendbare Recht in Zivil- und Handelssachen (Rom I-Verordnung – Rom I-VO) unterliegen auch die Arbeitsverträge zwar grundsätzlich dem vereinbarten Recht. Art. 6 Rom I-VO regelt aber den Fall von Kollisionen und stellt insoweit primär darauf ab, in welchem Staat der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“. Das ist der Ort,

  • an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit tatsächlich ausübt, und,
  • in Ermangelung eines Mittelpunkts der Tätigkeit, der Ort, an dem der Arbeitnehmer den größten Teil seiner Arbeit ausübt.

Dieses Kriterium des Orts der Ausübung der beruflichen Tätigkeit ist zum Schutz der Arbeitnehmer nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofes weit auszulegen. Im Streitfall muss der luxemburgische Berufungsgerichtshof daher zunächst prüfen, in welchem EU-Staat sich der Ort befindet von dem aus,

  • der LKW-Fahrer seine Transportfahrten durchführt,
  • er Anweisungen zu diesen Fahrten erhält,
  • seine Arbeit organisiert wird,
  • an dem sich die Arbeitsmittel befinden,
  • sowie an welchen Orten die Waren hauptsächlich entladen werden
  • und wohin der Arbeitnehmer nach seinen Fahrten zurückkehrt.

Unser Kommentar:

Sobald der luxemburgische Berufungsgerichtshof abschliessend über seine Zuständigkeit negativ entschieden hätte, was wegen der „Hausaufgaben“ des europäischen Gerichtshofes noch lange dauern kann, begänne die wirkliche Überprüfung der Kündigung möglicherweise erneut vor der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit mit ihrem Angebot von drei Instanzen. Die deutschen Arbeitsgerichte sind vergleichsweise schnell, aber erfahrene Arbeitsrechtler nehmen auch mindestens ein Jahr pro Instanz an. Die Kündigung selbst war vor zehn Jahren! Es fragt sich, ob die Gerichte nicht mehr Mut haben sollten, ihre Zuständigkeit im Zweifel zu bejahen, wenn es die Parteien nicht monieren, als sich umfassend mit ihrer Unzuständigkeit zu beschäftigen. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 15.März 2011 erweitert ihre Kompetenz dazu und weist ihnen den Weg.

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