Bagatellverstoss und fristlose Kündigung
Die Frage der Verhältnismässigkeit fristloser Kündigungen bei unstreitigen Arbeitsvertragsverstössen ist ins Schwimmen gekommen. Was ist ein Bagatellverstoss? Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat am 16.09.2010 die Kündigung einer langjährig beschäftigten Bahnmitarbeiterin trotz einer Betrugshandlung im Umfange von rund 160 Euro für unwirksam gehalten.
Der Fall:
Die Arbeitnehmerin, die als Zugabfertigerin auf einem Bahnhof beschäftigt war, hatte ihr 40-jähriges Dienstjubiläum im Kollegenkreis gefeiert, im Anschluss daran dem Arbeitgeber eine von einer Catering-Firma erhaltene „Gefälligkeits“-Quittung über einen Betrag von 250 Euro für Bewirtungskosten vorgelegt und sich den Betrag erstatten lassen, während sich die Bewirtungskosten in Wirklichkeit nur auf rund 90 Euro beliefen. Beim Arbeitgeber bestand eine Regelung, wonach aus Anlass des 40-jährigen Dienstjubiläums nachgewiesene Bewirtungskosten bis zur Höhe von 250 Euro erstattet werden.
Die Entscheidung:
Das Landesarbetisgericht Berlin-Brandenburg hat die fristlose Kündigung für unwirksam erachtet.
Nach Auffassung des Gerichts hat zwar die Arbeitnehmerin durch die Betrugshandlung gegenüber ihrem Arbeitgeber eine strafrechtlich relevante grobe Pflichtwidrigkeit begangen und damit ohne weiteres einen Kündigungsgrund „an sich“ gesetzt. Im Rahmen der auf den Einzelfall bezogenen Interessenabwägung hätten jedoch die zugunsten der Arbeitnehmerin zu berücksichtigenden Umstände – letztlich – überwogen. Dabei sei die neuere Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.2010 („Pfandbon“ ‚“Emily“) mit zu beachten gewesen, in der das Bundesarbeitsgericht die Kündigung des Arbeitsverhältnisses einer langjährig beschäftigten Kassiererin für unwirksam erachtet hatte. Den sich nur aus der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts (!) ergebenden Erwägungen folgend hat das Landesarbeitsgericht in erster Linie die 40-jährige beanstandungsfreie Beschäftigungszeit der Arbeitnehmerin in Rechnung gestellt, die – unter Berücksichtigung der neuen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts – zu einem sehr hohen Maß an Vertrauenskapital geführt hat. Dieses sei durch die einmalige Verfehlung noch nicht vollständig zerstört worden.
Des Weiteren sei zu berücksichtigen gewesen, dass die Arbeitnehmerin – anders als die Kassiererin im „Pfandbonfall“, die ihre Pflichtwidrigkeit sogar im Kernbereich ihrer Tätigkeit an der Kasse begangen hatte – sich bei ihrer Handlung außerhalb ihrer normalen Tätigkeit befunden hat, denn als Zugabfertigerin habe sie nicht regelmäßig mit Gelddingen zu tun. Bei dem im Zusammenhang mit der Jubiläumsfeier stehenden Vorgang habe es sich um einen für die Arbeitnehmerin und ihre Tätigkeit atypischen Vorgang gehandelt.
Schließlich habe die hiesige Arbeitnehmerin – anders wiederum als die Kassiererin im „Pfandbonfall“ – bei der Anhörung durch den Arbeitgeber ihre Pflichtwidrigkeiten sofort eingeräumt und keine falschen Angaben gemacht oder gar Kollegen unzutreffenderweise beschuldigt.
Alle diese zu Gunsten der Arbeitnehmerin sprechenden Gesichtspunkte hätten das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, dem angesichts der massiven Betrugshandlung der Arbeitnehmerin durchaus ein sehr hohes Gewicht beizumessen gewesen ist, letztlich überwogen.
Da die Arbeitnehmerin tarifvertraglich nicht mehr ordentlich kündbar ist, bestehe das Arbeitsverhältnis fort.
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen.